Tim Raue
Es soll ja hier und da Kreise geben, in denen 'zu' gutes Essen als
unentschuldbare Dekadenz gilt, der sich allenfalls ausbeuterische
Kapitalistenschweine hingeben. Vielleicht kommt deshalb Tim Raues
Restaurant, direkt gegenüber der TAZ-Redaktion gelegen, so betont
unauffällig daher, dass der Normalpassant einfach daran vorbei geht.
Vielleicht möchte der Chef aber auch keine Laufkundschaft anlocken, denn
mittags ist der Laden ohnehin rappelvoll - wir wissen es nicht.
Im Inneren präsentiert sich das Restaurant ebenfalls ohne jeden Prunk,
die Einrichtung ist sachlich-schlicht, ohne dabei Kälte zu verströmen.
Letzteres erledigt in angenehmer Weise die neue Klimaanlage.
Das Personal zeigte sich bei unserem Besuch im Juli 2014 charmant, gut
gelaunt, schlagfertig und flott, wir haben uns bei der jungen Mannschaft
sehr wohl und bestens betreut gefühlt.
Die Speisenfolge erwies sich als klar strukturiert und extrem sauber
durchkomponiert. Glutenjunkies allerdings müssen ganz, ganz stark sein:
Sättigungsbeilagen wie Brot, Kartoffeln, Nudeln oder Reis finden sich
nicht auf den Tischen. Sie würden auch kaum zum Gesamtkonzept passen.
Was allerdings gut passt, ist die durchgängige, hintergründige Schärfe,
die sich durch das gesamte Menü zieht.
Üppig fiel der Gruß aus der Küche aus: Frischer Spargel in Estragonessig
eingelegt, geröstete Nüsse, Lilien und wunderbar 'asiatisch' eingelegter
Schweinebauch.
Die Vorspeisen: Originell anzusehen und ein Vergnügen für den Gaumen.
Zum einen dim sum „avocado, tomate & garnele“, zum anderen Krake, Purple
Curry & Melone. Wiewohl die Krake nicht als Augenweide daherkam,
überzeugte sie doch durch nicht zu feste Konsistenz und feines Aroma.
dim sum
Krake
Ja, und beim nächsten Gang waren wir wirklich heilfroh, dass kein
militanter Kapitalismuskritiker in gerechtem Zorn durchs Fenster lugte,
denn es wurde so richtig dekadent. Der Genusspapst bestellte allen
Ernstes - Hummer. Mit Sambal manis & Pomelo. Der war beherzt gewürzt und
verdient eine glatte 1!
Nicht weniger erfreulich das geräucherte und gegrillte Schweinekinn, mit
Papaya & Nuoc Mam. Wer es gern deftig mag und wer Geschmack nicht nur
erahnen will, sollte sich dieses bemerkenswert magere Stück gönnen.
Doch damit nicht genug der Highlights, es folgte Tim Raues
Interpretation der Pekingente. Knusprige, auf den Punkt gegarte
Entenbrust lag auf einer 5-Gewürzwaffel in pikanter Sauce aus Entenfüßen, auf dem
zweiten Teller hatte man liebevoll die Leber drapiert und in der kleinen
Schüssel wartete eine kraftvoll-würzige Entenconsommé aus Herz und
Nieren auf den Genießer. Das war sicher die beste Entensuppe aller
Zeiten, unsere Begeisterung kannte wirklich keine Grenzen.
Die gute Stimmung blieb erhalten, das lag am Calpico (eine Art in Wasser
aufgelöstem Joghurt / japanischer Softdrink) mit Himbeere & Rhabarber
sowie am Tellerchen mit mittelaltem Rohmilch-Gouda, Aprikose & Safran.
Calpico
Käse
Zum wirklich sehr kräftigen Espresso-Macchiato gab es als Süßungsmittel
Urzucker aus unraffiniertem Zuckerrohr oder Palmzucker, daneben aber als
Überraschung auch eine echte Erfrischungsgranate: Geeister Birnenschaum.
Ein raffinierter, wohlgekühlter und keinesfalls zu zuckriger Abschied -
toll!
Das viele Licht wirft auch eine Spur Schatten, und zwar in Form der
Weinpreise. Offene Tropfen werden für rund 13,- Euro angeboten, und zwar
für 0,1 Liter. Von großzügigem Einschenken kann keine Rede sein, wenn
wir von einer einzigen Ausnahme absehen: Der 76er Süßwein sollte als
0,05 Liter ausgeschenkt werden, es gab dann aber doch gute 0,2 Liter.
Wenn man sich als Nicht-Fabrikbesitzer am Ende die Rechnung für das
Mittagsmahl in Ruhe ansieht, fällt auf, dass die anfangs erwähnten
kapitalismuskritischen Kreise nicht vollkommen schief liegen - für
normal verdienende Lohnsklaven in ihren eisernen Ketten ist das doch ein
ganz ordentlicher Batzen Geld. Wir waren dennoch höchst zufrieden oder,
wie es der Genusspapst trefflich ausdrückte: Es war das Menü des Jahres.
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Im April 2015 hatte sich glücklicherweise kaum
etwas geändert, auch nicht am Küchengruß. Trotz Abwesenheit des Chefs
gab es keine Hänger, im Gegenteil, Service und Küche waren in Topform.
Sehr zum leicht scharfen Grundton des Menüs passte "hamachi ceviche,
holunderblüte & grüne melone" (Gelbflossenmakrele), wobei der Fisch
nur beinahe roh (in Zitrone quasi 'gegart') war und gut mit den bunten Tupfen harmonierte:
dim sum „peking ente“ war nach Auskunft der Genusssklavin lecker, sogar
"saulecker", präziser: Aromatief und sehr nach Ente schmeckend. Das
gleiche Aroma fand sich dann auch im folgenden Gang wieder.
Peking-Ente als Hauptgang überzeugte auch beim zweiten Mal restlos,
einziger Unterschied zum Juli 1014: Die krosse Entenbrust war nun in
drei Teile zerschnitten:
Nicht recht zum ansonsten konsequent durchgehaltenen roten Faden der
leichten asiatischen Schärfe passte "manny’s beef, rote bete & morchel".
Das änderte allerdings nur wenig an der Freude an diesem genialen Gang,
der durch butterzarte Fleischqualität in stimmig-kräftiger Sauce
bestach:
Zu den bunten Nachtischen, "thai mango, limette & safran" sowie
"seidentofu, pink lady apfel & kiwi" passen eigentlich nur zwei
Adjektive, nämlich rund und hocherfrischend.
Schön, dass sich lieb gewonnene Gänge weiterhin auf der Karte finden.
Und geeiste Birne gab es auch wieder zum ( 6,- € teuren) Kaffee:
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Im Juni 2016 stellten wir erneut fest, dass sich
bei Tim Raue nichts geändert hat - und das ist auch gut so. Nach wie vor
gibt es eine eher experimentelle Küche, die allerdings nicht mit wilder
oder abgedrehter Aromenvielfalt um sich wirft, sondern versucht, dem
einzelnen Aroma den gebührenden Raum zu verschaffen. Der Versuch gelingt
auf ganzer Linie, allerdings oftmals erst beim zweiten Bissen. Beim
ersten denkt man noch, nun ja, schmeckt ganz normal und nicht so
speziell, das ändert sich dann aber sehr schnell und anhaltend. Hier
wird erfreulich deutlich gekocht, es gibt keine langweiligen Beilagen
oder nur Beiläufiges.
Zuweilen gelingt der Küche unfassbar Geniales, beispielsweise die
Mischung von Huhn und Jakobsmuschel, aber auch die von Mango und Gurke.
Ein Berlinbesuch ohne Einkehr bei Raue ist für mich inzwischen
unvorstellbar.
Gruß aus der Küche
dim sum „hühnerbrühe, jakobsmuschel & bambuspilz“
wasabi kaisergranat
black pepper beef, allium & p.x. essig
Spanferkel
zander, kamebishi soja 10y, lauch & ingwer
thai mango, limette & safran
stilton, birne & parmesan
Zum Kaffee: Passionsfruchtcreme auf Salatgurkenstückchen - ein Traum!
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Die Genussanwältin hat ein paar optische Eindrücke aus dem Jahr
2021 mitgebracht:
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Restaurant
TIM RAUE
Rudi-Dutschke-Str. 26
10969 Berlin
Tel.: + 49 (0) 30 – 2 59 3 79 30
E-Mail: office@tim-raue.com
Gute Laune im WC: